SOS Kolumbien – Was ist los in Kolumbien?
Warum gibt es seit dem Generalstreik am 28.April in mehr als 500 Städten fortlaufend Proteste gegen die Politik der Regierung?
Die ursprünglich hauptsächlich gegen die geplante Steuerreform gerichteten Proteste liefen weitgehend friedlich. Es kam vereinzelt zu Gewalt von Protestierenden und zu Vandalismus. Die exzessive Polizeigewalt gegen friedlich Protestierende brachte große Teile der Bevölkerung so auf, dass sie – auch als die Steuerreform zunächst zurückgenommen wurde, weitermachte und gemeinsam trotz der sonst vorherrschenden Angst ihre Rechte einfordert, die ihr seit langem vorenthalten werden: Befriedigung der Grundbedürfnisse wie bessere Gesundheitsversorgung, kostenlose Ausbildung, genügend Essen (Ausrichtung der Agrarpolitik auf Ernährungssouveränität hin), eine intakte Umwelt (keine Glyphosatbesprühungen, kein Fracking…) Wegen der (extremen) Armut, die unter der Pandemie noch sehr zugenommen hat, fordert sie ein Grundeinkommen. Außerdem soll das Friedensabkommen umfassend umgesetzt werden und das Ermorden der sozialen Führungspersonen aufhören. Dazu ist es nötig die vorherrschende Straflosigkeit zu beenden und die Verbrechen zu ahnden. Die allerdringendste Forderung ist die Demilitarisierung und der Schutz des Lebens der Protestierenden! Viele haben wegen der jahrelangen schlechten Erfahrungen mit dem Nichteinhalten von Vereinbarungen keinerlei Vertrauen mehr in die Regierung und fordern den Rücktritt des Präsidenten.
Das Gespräch gestern zwischen der Regierung und dem Streikkomitee brachte keine Lösung. Die Regierung ist nicht bereit, die massive Militarisierung zurückzunehmen und äußerte nach Angaben der Teilnehmenden weder Bedauern über die Opfer der Gewaltexzesse der Polizei noch zeigte sie Bereitschaft über die geforderten Inhalte zu verhandeln. Sie hatte schon zuvor fast nur den Vandalismus einiger Gruppen mit zerstörten Autos und Läden im Blick und verurteilt das Auflehnen gegen die Institutionen des Staates. Sie spricht dabei von städtischen terroristischen Zellen, die es zu bekämpfen gilt.
Die Streikenden sind ohne Rückzug des Militärs und der brutalen dem Verteidigungsminister unterstehenden Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD nicht bereit die Proteste einzustellen. Diese sind auch weiterhin ganz überwiegend friedlich und kreativ.
Besonders schwierig ist die Lage in Cali, der drittgrößten Stadt des Landes, dem Epizentrum des Widerstandes, wo es einen ganz großen Anteil historisch diskriminierter und sozial abgehängter Afrobevölkerung gibt. Viele kamen als Binnenflüchtlinge aus anderen Regionen des Landes. Auf einigen Straßen errichten Jugendliche Blockaden, die dem Geforderten Gewicht verleihen. Mittlerweile gibt es Videos und Zeugenaussagen, die zeigen, dass sich Bewaffnete in Zivil unter die Demonstrierenden mischten und auch in Anwesenheit von Polizisten gewalttätig wurden und anschließend von Polizeifahrzeugen eingesammelt wurden. Unter denen, die in ziviler Kleidung auf Demonstrierende schossen, soll es auch Polizisten gegeben haben. Die traurige derzeitige Bilanz nach Zahlen vom 7. Mai der NGOs Temblores und Indepaz: 47 Tote, zwölf Opfer von sexueller Gewalt durch staatliche Sicherheitskräfte, 28 Menschen mit Augenverletzungen, 548 Verschwundene sowie 1.956 Fälle von Polizeigewalt. 1 Polizist ist getötet worden. Über die Festgenommenen geben die Behörden den Angehörigen nicht die notwendige Auskunft, so dass die Gefahr besteht, dass sie verschwunden werden. Die obersten Kontrollbehörden, die mit Freunden des Präsidenten besetzt sind, nehmen ihre Aufgaben nicht angemessen wahr.
Der Streik hat sich immer mehr ausgeweitet, da die Menschen an zahlreichen Orten Menschenrechtsverletzungen erleben und die Betroffenen viel über Videos und soziale Medien verbreiten. Ihre Erfahrungen stehen im Gegensatz zu der Antwort des kolumbianischen Botschafters in Deutschland auf den besorgten Brief der 15 deutschen Parlamentarier*innen. Der Botschafter versicherte, die kolumbianischen Ordnungskräfte würden das Demonstrationsrecht sicherstellen. Ihre Handlungen befolgten „rigorose rechtliche Rahmenbedingungen, die die Garantie und die Achtung der Menschenrechte gewährleisten“. Den Protesten haben sich auch Kulturschaffende, weitere Gewerkschaften und Lastwagenfahrer angeschlossen. Nach Cali hat der Präsident ein weiteres Militärkontingent geschickt. Doch vor allem die Jugendlichen aus den marginalisierten Vierteln, die die meisten Todesopfer und Verhafteten gestellt und wenig zu verlieren haben, wollen nicht aufgeben. Eine Humanitäre Beobachterkommission unter Begleitung von Repräsentanten der Katholischen Kirche und des UN-Menschenrechtsbüros in Cali wurden durch Polizisten bedroht und beschossen und mussten sich zurückziehen.
Die unbewaffnete Indigenen Minga des CRIC aus den benachbarten Territorien kam zur Unterstützung der Proteste nach Cali. Sie wurde von zivilen Bewaffneten angegriffen, die mehrere verletzten. Es gibt Versorgungsengpässe in Cali, ein Humanitärer Korridor wurde eingerichtet. Die Streikenden, die direkt von Kleinbauern mit Lebensmitteln beliefert wurden, mussten den Campesino Markt wegen Angriffen aufgeben.
Wie haben sich die Protestierenden organisiert? Zum einen gibt es in den barrios populares, den Wohnvierteln der Unterschicht, überall Gemeinschaftsküchen, in denen die Aktiven auch mit Hilfe von solidarischen Spenden eine Grundversorgung bekommen. Zum anderen laufen derzeit in vielen Stadtvierteln und Gemeinden Vollversammlungen (asambleas populares), um die Forderungen zu diskutieren, abzustimmen und weiterzutragen auf die regionale und nationale Streikebene. Diese Prozesse kommen jetzt zu dem hinzu, was das offizielle Streikkomitee mit seinen über 20 Sektoren schon repräsentiert.
Mehr dazu berichteten Aktivist*innen aus Bogotá, Cali und Quibdó im Life-Gespräch am 10.5. Die Veranstaltung mit Eingangsstatement von Raul Zelik gab ein detailliertes Bild über die aktuelle Lage. Aufzeichnung (Dt./spanisch) der Veranstaltung: https://www.facebook.com/unidosporlapazalemania/videos/3112373437742
Weitere aktuelle Informationen gibt es unter: Amerika 21 https://amerika21.de/nachrichten/5
Auch viele internationale Organisationen (NGO, Parlamentarier*innen, EU und UN-Vertreter*innen) forderten die Regierung auf, Polizeigewalt zu beenden, friedliche Protest zu ermöglichen und den Rechtsrahmen zu beachten, nachzulesen bei kolko – Menschenrechte für Kolumbien https://www.kolko.net/
Was tun?
* Sich informieren und solidarisieren
Fotos von der Solidaritätskundgebung am 7.5. in Bonn, am Samstag in Köln (siehe oben)
https://www.facebook.com/COLPAZfriedenfuerkolumbien/photos/pcb.4173011629417715/4173010139417864
* Mitmachen bei Unterschriftenaktion, z.B. von Amnesty International https://www.kolko.net/aktuelles/uebergriffe-der-sicherheitskraefte-bei-protesten-in-kolumbien-ai-petition-und-pms/
* Spenden „Während des Generalstreiks eröffnet die Polizei das Feuer auf Demonstrierende, was zu Toten, Verletzten, Gefangengenommenen und Vermissten führt. Unterstützt durch diese Spende menschenrechtsverteidigende Gruppen in Kolumbien. Es werden Medikamente und First-Aid Kits in verschiedenen Regionen des Landes gebraucht! Vielen Dank für Eure Unterstützung!“ https://paypal.me/pools/c/8z9zEUJuSw
https://www.facebook.com/COLPAZfriedenfuerkolumbien/photos/a.2103459553039610/4163274577058087/
Solidarische Grüße
Margaret Buslay
pax christi, Sprecherin Kommission Solidarität Eine Welt